Als sich Ende Mai 1958 eine kleine Gruppe von Wissenschaftlern in Zürich traf, war noch nicht absehbar, dass dieses Treffen die Grundlagen moderner Programmiersprachen nachhaltig prägen würde. Vertreter der amerikanischen Association for Computing Machinery (ACM) und der europäischen Gesellschaft für Angewandte Mathematik und Mechanik (GAMM) kamen an der ETH Zürich zusammen, um über ein Problem zu diskutieren, das die junge Informatik zunehmend beschäftigte: Wie lassen sich Algorithmen so formulieren, dass sie unabhängig von konkreter Hardware verständlich, präzise und international einsetzbar sind?
Der Ort war dabei kein Zufall. Die Eidgenössische Technische Hochschule (ETH) Zürich galt bereits damals als ein Zentrum technischer und mathematischer Forschung, und die Schweiz bot als neutraler Boden ideale Voraussetzungen für den Austausch zwischen europäischen und amerikanischen Wissenschaftlern. Vom 27. Mai bis zum 2. Juni 1958 arbeiteten die Teilnehmer – unter ihnen Namen wie Friedrich L. Bauer, Heinz Rutishauser, Klaus Samelson, John Backus oder Alan Perlis – an einer gemeinsamen Vision: einer universellen, formalen Sprache zur Beschreibung von Algorithmen. Das Ergebnis dieses Treffens wurde zunächst als „International Algebraic Language“ bezeichnet und später unter dem Namen ALGOL 58 bekannt.
Informatik im Spannungsfeld von Kaltem Krieg und Aufbruch
Um die Bedeutung dieses Moments zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf das Jahr 1958 selbst. Die Welt befand sich mitten im Kalten Krieg, technologische Entwicklungen waren eng mit geopolitischen Interessen verknüpft. In den USA führte der Schock über den sowjetischen Sputnik-Start zur Gründung der NASA – der Wettlauf ins All hatte begonnen. Computer wurden zunehmend als strategische Werkzeuge wahrgenommen, sowohl für wissenschaftliche Berechnungen als auch für militärische Anwendungen. Gleichzeitig steckte die Informatik als eigenständige Disziplin noch in den Kinderschuhen. Programmiert wurde überwiegend maschinennah, oft in Assembler oder in stark hardwaregebundenen Sprachen wie FORTRAN.
Genau hier setzte die Idee von ALGOL an. Die Sprache sollte nicht primär für den Betrieb bestimmter Rechner entwickelt werden, sondern für den Austausch von Ideen. ALGOL verstand sich als präzise Notation für Algorithmen, die es Forschern erlaubte, Rechenverfahren eindeutig zu beschreiben – unabhängig davon, auf welchem System sie später implementiert wurden. Damit spiegelte das Projekt den Geist der Zeit wider: Internationalisierung, Standardisierung und wissenschaftliche Kooperation über Ländergrenzen hinweg.
Ein Vermächtnis jenseits produktiver Nutzung
Besonders bemerkenswert war, dass mit ALGOL nicht nur eine neue Sprache entstand, sondern auch neue Denkweisen. Die formale Beschreibung der Syntax mithilfe der später sogenannten Backus-Naur-Form setzte Maßstäbe für die Sprachdefinition. Blockstrukturen, klar definierte Gültigkeitsbereiche von Variablen und rekursive Prozeduren wurden erstmals systematisch eingeführt. Auch wenn ALGOL selbst nie eine breite industrielle Nutzung erlangte, wirkten diese Konzepte weit über das Projekt hinaus.

Titelseite des „ALGOL-20 – A Language Manual“ aus dem Jahr 1965 (Wikimedia Commons, ALGOL-20 – A Language Manual (1965), CC BY-SA 3.0)
In den Jahren nach dem Züricher Treffen wurde ALGOL weiterentwickelt, insbesondere mit der Veröffentlichung von ALGOL 60, das zum Referenzpunkt für viele spätere Programmiersprachen wurde. Pascal, C, Java oder auch moderne Skriptsprachen greifen Ideen auf, die ihren Ursprung in den Diskussionen jener Woche im Frühjahr 1958 haben. Gleichzeitig zeigte sich aber auch, dass ALGOL vor allem eine Sprache der Wissenschaft blieb. Fehlende Standardbibliotheken und der Fokus auf formale Eleganz erschwerten den Einsatz in kommerziellen Anwendungen.
Heute ist ALGOL aus dem praktischen IT-Betrieb verschwunden. In produktiven Systemen spielt die Sprache keine Rolle mehr, und auch im Kontext von Legacy IT taucht sie kaum auf. Ihr Stellenwert ist ein anderer: ALGOL steht für eine Phase, in der Programmieren begann, sich von der Maschine zu lösen und als eigenständige Disziplin verstanden zu werden. Das Treffen von 1958 markiert damit weniger den Beginn einer langlebigen Technologie als vielmehr einen Wendepunkt im Denken über Software.
Für heutige IT-Entscheider mag ALGOL daher vor allem ein historisches Kapitel sein. Doch dieses Kapitel zeigt, wie eng technologische Innovation, internationale Zusammenarbeit und der gesellschaftliche Kontext miteinander verwoben sind – und wie Ideen, die in einer überschaubaren Runde von Experten entstehen, Jahrzehnte später noch nachwirken, selbst wenn die ursprüngliche Technologie längst Geschichte ist. (td)

Die ETH Zürich, Tagungsort des internationalen Expertentreffens von ACM und GAMM im Jahr 1958 zur Entwicklung von ALGOL.


